Hausverbote adé!

Hausverbote adé!

Gelegenheit schafft Bildung: Jugendarbeit ohne Hausverbote?


Auf konzeptioneller Ebene stand beim Verein Bahnfrei in den letzten beiden Jahren die Erstellung eines Organisationshandbuchs im Fokus. Im Zuge dessen haben wir uns mit dem Bildungsdiskurs der Jugendarbeit auseinandergesetzt und uns gefragt, worin sich Bildungsansätze in der Offenen Jugendarbeit von klassischen Bildungsangeboten unterscheiden. Als Ergebnis konnten wir unseren eigenen Bildungsanspruch deutlich schärfen. Was außerdem klar wurde: Hausverbote als pädagogische Maßnahme haben darin keinen Platz.


Bildungsgelegenheiten, überall!

Tolle Anregungen lieferte uns die Untersuchung von Cloos/Köngeter/Müller/Thole (vgl. 2009:15), in der Jugendarbeit als eine Tätigkeit in der „Sozialpädagogischen Arena“ beschrieben wird. Darin wird der spielerische, fast wettkampfähnliche Charakter der Interaktionen unter Jugendlichen oder zwischen Jugendlichen und Jugendarbeiter:innen sehr pointiert herausgearbeitet (vgl. ebd.:17). Für Jugendarbeit sei es essenziell, gemeinsam mit den Jugendlichen einen Raum zu etablieren, in dem das pädagogische Handeln „(…) nicht nur mit den Eigenaktivitäten der Jugendlichen rechnet, sondern auf diese baut (…)“ (ebd.:16). So kann ein Mikrokosmos und Probierfeld dafür entstehen, was von Jugendlichen beim Hineinwachsen in die Gesellschaft erwartet wird – zum Beispiel einen Platz zu finden, eigene Zugehörigkeiten zu schaffen und Anerkennung zu erhalten (vgl. ebd.:17f.).

Für Jugendarbeiter:innen ist es wichtig, Dynamiken, die dabei aufkommen, zu verstehen und sie als Gelegenheiten zur Auseinandersetzung interessiert aufzugreifen. Jugendliche, die sich zum Beispiel hingebungsvoll provokant verhalten, tun dies unter anderem, um sich im „Sozialraum Jugendtreff“ zu positionieren, das etwaige Infrage-Stellen der Beziehung zu den anwesenden Jugendarbeiter:innen ist dann Teil und möglicher Wetteinsatz dieser Inszenierung.

Müller/Schmidt/Schulz (vgl. 2005:56ff.) zeichnen in ihrer Forschung derartige Bildungsbedeutungen der Offenen Jugendarbeit nach. Sie machen deutlich, dass das „Wahrnehmen können“ als Kompetenz der Jugendarbeiter:innen eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Selbstbildung von Jugendlichen im Rahmen informeller Bildungsprozesse überhaupt gefördert werden kann. Geplante Bildungsaktionen (z.B. Themenabende) sind zwar Teil von Jugendarbeit, stellen aber nicht ihr eigentliches Potenzial dar, welches sie von anderen Bildungsangeboten unterscheidet (vgl. ebd.:58f.). Im Sinne der Offenheit ist Jugendarbeit dann erfolgreich, „wenn sie ihr grundsätzliches Reagieren-Müssen auf das, was die Jugendlichen tun (oder nicht tun), nicht mehr als Störung ihrer Pläne (…) begreift, sondern als ihren eigentlichen Arbeitsauftrag“ (ebd.:57). In diesem Sinne geht es darum, auf die vielen Bildungsgelegenheiten, die im alltäglichen Umgang in Jugendräumen zu finden sind, neugierig zu sein und sie durch pädagogische Antworten aufzugreifen.

Lesson learned: Hausverbote adé

Derartige Lernchancen werden aus unserer Sicht insbesondere durch die vorschnelle Exklusion von Jugendlichen, z.B. durch Hausverbote, verpasst. Diese sind zwar einerseits alternativlos, wenn es z.B. klar darum geht, einen Schutzraum zu gewährleisten und Täter:innen auszuschließen, sie sind andererseits aber kein geeignetes Mittel, um Jugendliche in ihrer Entwicklung zu fördern. Von Jugendlichen werden sie in erster Linie auch als Bestrafung wahrgenommen und stehen damit dem von uns angestrebten Beziehungsangebot auf Augenhöhe diametral entgegen. Viel sinnvoller erscheint uns daher beispielsweise, nachgehend und beharrlich zu erklären, warum bestimmte Verhaltensweisen nicht akzeptiert werden können („Das muss aufhören!“).


Zu dieser Einschätzung sind wir unter anderem durch Gespräche mit Jugendlichen darüber und einer Auseinandersetzung auf Teamebene gelangt. So haben wir uns bei einer Klausur im Rahmen von Rollenspielen in die Perspektiven Jugendlicher und Jugendarbeiter:innen auf Konfliktsituationen hineinversetzt, um so mögliche Bedürfnisse sichtbar zu machen. Das Handeln der Jugendlichen ist demnach nicht in dem Ausmaß auf die Jugendarbeiter:innen als Personen bezogen, wie letztere das möglicherweise vermuten (und sogar persönlich nehmen), sondern es kann Spaß oder der Reiz an der Provokation der Grund sein, aber auch Aufmerksamkeit kann so gut erzeugt werden, und manchmal geht es wohl schlicht um das Bedürfnis, das eigene Standing in der Gruppe zu sichern. In Bezug auf die Rolle der Jugendarbeiter:innen haben wir die Hypothese aufgestellt, dass manchmal eine pragmatische Abkürzung aufgrund fehlender Kapazitäten genommen wird oder es auch ein Zeichen der Überforderung mit der Situation sein kann, wenn die Hausverbotskarte aus der Tasche gezogen wird. In den Rollenspielen haben wir dann auch noch Alternativen ausprobiert. Es gelang meist gut, Situationen auch anders zu entschärfen. Leichtigkeit und Humor, aber auch Beharrlichkeit und Klarheit standen hier ganz oben auf der Erfolgsfaktoren-Liste.
Jugendliche nicht einfach wegzuschicken, wenn es mal überschwappt, ist in der Praxis natürlich trotzdem herausfordernd. Es verlangt auch abzuwägen zwischen dem Anspruch, einen Raum zu gewährleisten, in dem man sich alle wohlfühlen und der frei von Diskriminierung und Gewalt ist und andererseits, Exklusion zu vermeiden, um gerade auch mit jenen Jugendlichen arbeiten zu können, die es brauchen bzw. die möglicherweise ohnehin schon zu oft erlebt haben ausgeschlossen zu werden. Ein Hausverbot bedeutet letztlich allzu oft außerdem einen (zumindest zeitweisen) Beziehungsabbruch und mitunter eine Beschädigung des Vertrauens oder Zugangs zu den Jugendlichen.
Ein Abkühlen der Situation und eine Änderung der Vorzeichen ist natürlich trotzdem manchmal gefordert. Hier versuchen wir möglichst individuell zu reagieren („Komm, gehen wir an die frische Luft, wir müssen reden“). Das Handeln nach einem „Schema F“ oder das Ausbuchstabieren eines Regelwerks sind dafür nicht hilfreich.

„Na, und, krieg ich jetzt Hausverbot?“. Solche Sätze von Jugendlichen gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Nach knapp zwei Jahren Erprobung können wir berichten, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Jugendlichen und Jugendarbeiter:innen stark davon profitiert hat. Unser Eindruck ist, dass diese positive Atmosphäre für alle Jugendlichen auch spürbar und beispielgebend ist. Jugendliche, die zum ersten Mal den Jugendtreff besuchen, nehmen uns meist schnell als Ansprechpersonen wahr, anstatt uns die Rolle von Aufpasser:innen zuzuschreiben, wo Provokationen schnell zum Unterhaltungsprogramm für alle werden können. Gerade in Konfliktsituationen dreht sich die Eskalationsspirale im Vergleich zu früher nicht so weit nach oben, nachdem das Thema Hausverbot von keiner der Parteien in die Situation hineingespielt wird – schließlich gibt es sie ja nicht. Der Fokus rückt somit weg von der möglichen Sanktion und kann vielmehr auf dem eigentlichen Problem und der Klärung der verschiedenen Perspektiven liegen.

Fazit
Die Auseinandersetzung mit dem Bildungsdiskurs in der Jugendarbeit hat uns ermöglicht, unser eigenes Selbstverständnis nachzuschärfen. Die Stärke der Offenen Jugendarbeit liegt demnach darin, durch „wachsame Präsenz“ Bildungsgelegenheiten in alltäglichen Situationen zu erkennen und aufzugreifen. Das bedeutet beispielsweise, eine Konfliktsituation im Jugendtreff als willkommene Chance wahrzunehmen, um informelle Lernprozesse anzuregen, die im Sinne der positiven Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen wirken. Diese Sichtweise konnten wir auch für unseren Umgang mit Hausverboten nutzen, bei denen größtmögliche Zurückhaltung angesagt ist, eine Herangehensweise, für die wir an dieser Stelle auch werben wollen.
Andreas Neidl


Literaturtipp
Cloos, Peter / Köngeter, Stefan / Müller, Burkhard / Thole, Werner (2009). Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit. 2. durchgesehene Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden

Müller, Burkhard / Schmidt, Susanne / Schulz, Marc (2005): Wahrnehmen können. Jugendarbeit und informelle Bildung. Lambertus-Verlag. Freiburg im Breisgau

Neidl, Andreas / Tobolka, Markus (2023): How to: Bahnfrei. Handbuch einer innovativen Organisation der Offenen Jugendarbeit. Wien